Diät und Dogma liegen für mich nah beieinander. Beides mag ich nicht besonders, wie alles, was zu einengend daherkommt. Als leidenschaftliche Köchin finde ich Essen nach Regeln geradezu absurd. In Wirklichkeit habe auch ich natürlich längst welche aufgestellt. Möglichst saisonal und überwiegend mit regionalen Zutaten zu kochen oder wenig Fleisch zu essen kommt mir einfach nur nicht als Regel vor, weil ich das schon ewig mache. Ebenso wie Ausflüge in kulinarische Traditionen anderer Länder. Über die Jahre habe ich ein gutes Gespür dafür entwickelt, was mir bekommt und was nicht, wann ich mehr Frisches brauche oder wann es mal wieder Zeit ist für eine satte Portion Eisen in Form eines englisch gebratenen Steaks. Kalorienzählen fand ich schon immer doof. Brauchte ich auch nicht, weil ich keinerlei Probleme hatte, mein Gewicht zu halten.
Dann kam die Hormonumstellung. Ich hatte mir eingebildet, dass diese bei mir nicht zu zusätzlichen Kilos führen würde. Tat sie aber. Schleichend zwar, aber dann doch so, dass es irgendwann anfing, mich zu nerven. Es fiel mir schwer zu akzeptieren, dass meine bis dahin ausgewogene Ernährung offenbar neu austariert werden musste, wenn ich mich wieder wohl in meiner Haut fühlen wollte. Aber wie? Ich schleppte einen Haufen Ernährungsbücher aus der Bücherei nach Hause – und entdeckte die Langsamkeit.
Slow Carb ist eine Ernährungsweise, keine Diät. Sie setzt auf eine bestimmte Kombination von so genannten langsamen Kohlenhydraten, pflanzlichen Ballaststoffen und Eiweiß. Die Basis bilden viel frisches Gemüse und Salat. Dazu kommen Hülsenfrüchte, Getreide und Obst in Maßen. Tierisches Eiweiß und Fett, also Fleisch und Fisch darf auch sein, etwa im Verhältnis 1:3 zu Salat und Gemüse. Käse, Joghurt, Getreidedrinks und kalt gepresste Öle runden das Ganze ab. Das macht diesen Ansatz für mich schon mal sehr sympathisch: Die Slow Carb Küche passt ziemlich gut zu der Art wie ich sowieso koche, sie kommt mit wenigen Regeln aus, ich muss nur ein paar Dinge weglassen oder reduzieren. Letztlich hat mich auch die ernährungsphysiologische Wirkung überzeugt.
Es gibt nichts, worauf unser Hirn, unsere Muskeln, Zellen und Nerven so abfahren wie Kohlenhydrate. Sie liefern am schnellsten Energie. Die besteht aus Stärke und verschiedenen Zuckern. Der Stoffwechsel macht aus den Kohlenhydraten Glukosemoleküle, die ins Blut gehen und in die Zellen transportiert werden. Einfache Kohlenhydrate wie in Weißmehlprodukten oder Süßigkeiten werden schneller verdaut als komplexe wie sie in Hülsenfrüchten stecken. Blutzucker- und Insulinspiegel steigen schnell an, sinken aber auch relativ schnell wieder. Hunger stellt sich ein. Langsame Kohlenhydrate – englisch: carbohydrates – bestehen aus Mehrfachzuckern. Der Stoffwechsel braucht länger, um sie in Glukose umzubauen. Auch Ballaststoffe wie in Getreiden und vielen Gemüsesorten werden langsam verdaut. Damit halten Slow Carb Mahlzeiten einfach länger vor, hungern ist geradezu verboten. Ideal, wenn man über einen längeren Zeitraum ein paar Pfunde loswerden oder sein Gewicht halten will. Natürlich schadet es nicht, auch die Kalorien ein bisschen im Blick zu behalten. Wer gezielt abnehmen möchte, sollte pro Tag nicht mehr als 1800 Kilokalorien zu sich nehmen, empfiehlt die Zeitschrift BRIGITTE. Aber auch ohne solche Ziele kann ich euch diese Ernährungsweise empfehlen. Die Küche ist enorm vielseitig, lecker und schon nach wenigen Tagen spürbar bekömmlich.
Für Slow Carb gibt es drei wesentliche Regeln:
Ich folge hier dem Buch von Sabine Hülsmann, „Slow Carb. Mit den richtigen Kohlenhydraten zum Wohlfühlgewicht.“ In ihren Rezepten ist sie zwar mitunter etwas widersprüchlich zu ihren Grundaussagen, aber das finde ich nicht weiter wild. Man bekommt ein ganz gutes Gefühl für das Prinzip und kann schnell selbst anfangen, Zutaten neu zu kombinieren. Es gibt auch noch andere, strengere Ansätze von Slow Carb. In „Der 4-Stunden-Körper“ verzichtet Timothy Ferriss unter anderem komplett auf Obst und plädiert für einen Tag in der Woche, in der man essen darf was und so viel man will. Sein Ansatz ist mir schon wieder zu dogmatisch und unterm Strich zu einseitig. Aber bei all dem gilt es ja sowieso, selbst herauszufinden, welche Ernährungsweise am besten zu einem passt. Und die ist wiederum davon abhängig, was ihr überhaupt erreichen wollt. Egal wofür ihr euch entscheidet, legt am besten einen Startpunkt fest, den ihr dann auch einzuhalten. Sonst fängt man nie an …
Für mich war es das Ende meiner Wanderung an den Gardasee. Nach neun Tagen und 120 gewanderten Kilometern waren auch ein paar Pfunde auf der Strecke geblieben – perfekt für die Umstellung auf Slow Carb. Zumal es jetzt im Sommer alle möglichen Salat-, Gemüse- und Obstsorten frisch, regional und in größter Vielfalt gibt. Martin ist direkt mit eingestiegen. Auch ohne Wanderung. Wir hatten vorher festgelegt, es erstmal zwei Monate auszuprobieren und zu sehen wie es uns damit ergeht. Die ersten vier Wochen sind inzwischen um, mit positiver Bilanz. Nicht nur, weil das Gewicht zwar langsam, aber nachweislich abnimmt. Vor allem, weil die ganze Ernährung nach einer kurzen Umstellungsphase zu mehr Wohlbefinden führt. Es fühlt sich insgesamt leichter an.
Am Anfang habe ich häufig nach Rezepten gekocht, um ein Gefühl für die Mengen und die besten Kombinationen von langsamen Kohlenhydraten, Ballaststoffen und Eiweiß zu bekommen. Morgens gibt es jetzt statt Butterbrot mit Salami (ich) und Erdbeermarmeladenbrot (Martin) Porridge oder Müsli mit frischem Obst. Mittags meistens einen Salat, zum Beispiel aus Kichererbsennudeln, Hirse oder Gerstengraupen jeweils gemixt mit Rohkost der Saison. Oder mal Rührei oder gebratenen Fisch oder Linsenbratlinge mit Salat. Abends gibt dann noch es was Leichtes mit wenig Kohlenhydraten. Im Moment stehe ich auf frische Möhren- oder Gurkensuppe oder Salat mit Schafskäse. Am Wochenende erlauben wir uns Brötchen von unserem französischen Bäcker um die Ecke. Erstaunlicherweise war ich nur in der ersten Woche wild auf meine Lieblingsbrötchen, am zweiten Wochenende waren sie immer noch Ok, aber eigentlich verzichtbar. Überhaupt essen wir deutlich weniger Brot und wenn, dann eher als Beilage und aus Vollkornmehlsorten. Quinoa, Chia und andere so genannte Superfoods lassen sich prima durch regionale Saaten ersetzen, die genau das gleiche können wie diese Trendzutaten – und deutlich weniger kosten.
Also alles easy? Fast. Am schwierigsten finde ich es, drei vollwertige Mahlzeiten im Abstand von fünf Stunden zu mir zu nehmen. Durch diese Vorgabe ist mir erstmal klargeworden, wie unregelmäßig ich mich meistens ernährt habe. Das Abendessen fällt oft immer noch zu spät aus, gerne gegen 20:30 oder 21 Uhr. Wir nennen das „italienische Essenszeit“. Schön, aber wahrscheinlich nicht nur nicht im Sinne von Slow Carb, sondern auch etlicher anderer Ansätze. Kohlenhydrate nach 18 Uhr ziehen wir jedenfalls eiskalt durch …
Hungerattacken zwischendurch habe ich nicht. Martin kommt nicht immer ganz ohne Snacks für zwischendurch aus, hat aber seine Lieblingsnussmischungen durch Obst ersetzt. Er lässt sich gerne vom Podcast der Ernährungscoachin Sarah Tschernigow inspirieren. Sie ist nicht direkt Slow Carb Spezialistin, sondern gibt viele gute Tipps, sich trotz Berufsalltag und Vielfahrerei gesund zu ernähren. Momentan testet Martin dunkle Schokolade mit 80 und 90 % Kakaoanteil. Sie ist als Minisnack zugelassen, weil sie viel sättigendes Fett und nur wenig Zucker enthält. Dafür schmilzt sie nicht so toll, zwei Stücke reichen meist. Er meint, allein das Gefühl, ein Stück Schokolade zu essen, scheint sein Unterbewusstsein zufrieden zu stellen.
Unterm Strich ist insgesamt ein bisschen mehr zu organisieren als vorher, weil wir als Berufstätige Frühstück und Mittagessen mit zur Arbeit in nehmen. Unser Bestand an gut verschließbaren Gefäßen für Mahlzeiten ist daher schnell gewachsen. Abends und morgens wird noch reichlich geschnippelt und gemixt. Klar, das braucht deutlich mehr Zeit als Brote zu schmieren. Gleichzeitig stärkt es das Gefühl, gut für sich zu sorgen. In vier Wochen haben wir den Bogen sicher noch ein bisschen besser raus. Und dann bleiben wir dabei – so viel steht jetzt schon fest.
Ich bin Susanne, Kieler Sprotte mit rheinischem Gen. Nach Stationen in Köln und auf Sylt lebe ich seit über zwanzig Jahren wieder in Kiel. Mittendrin, mit meinem Mann Martin – und tonnenweise Büchern. Sozialisiert als Wollsocke der ersten Generation traktierte ich schon als Dreizehnjährige meine Familie mit makrobiotischer Kost.